Potentiale der Normentheorie im Prozess der strafrechtlichen Internationalisierung (Konstanz, 8.–10. September 2022)
Vgl. auch den Tagungsbericht von Jakobi, JZ 2023, 608
Die dritte Präsenzsitzung des Arbeitskreises widmete sich den Potentialen der Normentheorie im Prozess der strafrechtlichen Internationalisierung. Hierzu luden Liane Wörner, Stefanie Bock, Svenja Behrendt und Laura Neumann vom 8. bis zum 10. September 2022 nach Konstanz ein. Neben den Mitgliedern des Arbeitskreises bereicherten die internationalen Gäste Hirokazu Kawaguchi von der Meiji-Universität in Tokyo und Adem Sözüer von der Universität Istanbul die Diskussion.
Den Eröffnungsvortrag hielt am Abend des 8. September 2022 Stefanie Bock. Darin beleuchtete sie umfassend die Relevanz der Normentheorie für die Internationalisierung des Strafrechts. Bock legte dar, dass sich die Globalisierung auf das Strafrecht unmittelbar auswirke, weil mit ihr die Transnationalisierung der Kriminalität einhergehe, die wiederum ein Bedürfnis nach einer gemeinsamen Reaktion hervorrufe. Diese Reaktion betreffe drei große Bereiche, namentlich die Angleichung nationaler strafrechtlicher Regelungen, die internationale Rechtshilfe und das Strafanwendungsrecht. Die Herausforderung liege insoweit darin, dem Spannungsverhältnis zwischen dem Bedürfnis nach Rechtsvereinheitlichung und der Wahrung kultureller Identitäten angemessen Rechnung zu tragen. In diesem Kontext kann die Normentheorie nach Bock erhebliche Bedeutung erlangen. Sie müsse dazu aber weiter diskutiert werden, weil sie jedenfalls in ihrer klassischen, auf Binding zurückgehenden Form bei Weitem nicht alle gerade aufgrund der strafrechtlichen Internationalisierung neu aufkommenden Fragen beantworten könne. Exemplarisch verwies Bock insoweit unter anderem auf das Adressatenproblem im Völkerstrafrecht, das als Strafrecht eine an ein Individuum gerichtete Verhaltensnorm fordere, während das Völkerrecht Staaten adressiere. Auch wenn die Normentheorie demnach keine Patentlösung für alle auftretenden Probleme bereithält, birgt sie nach Bock aufgrund der für sie charakteristischen Orientierung an staatenübergreifend geltenden, internationalen Verhaltensnormen dennoch grundsätzlich bedeutende Potentiale für die strafrechtliche Internationalisierung. Insoweit ging Bock beispielhaft auf die für die Normauslegung aus der Normentheorie folgende Erkenntnis ein, dass etwaige internationale Verhaltensnormen auch nach Maßgabe internationalen Rechts auszulegen seien, während die Sanktionsnorm nach nationalen Maßstäben zu bewerten sei. Unterschiede in der Strafwürdigkeitsbeurteilung würden somit die Geltung der internationalen Verhaltensnormen nicht in Frage stellen, was für die Bewertung rechtlicher Unterschiede in den Sanktionsnormen entscheidende Bedeutung habe. Zudem wirkt sich die Normentheorie nach Bock auch auf die Bewertung der Nichtverfolgung von Normverstößen und Selektivitäten in der Strafverfolgungspraxis aus, weil nach normentheoretischen Maßstäben jede Norm eine Sanktionsabsicherung fordere. Da das Individuum somit auch die Befolgung der Sanktionsnorm einfordern könne, sei eine dritte Dimension der durch strafrechtliche Normen begründeten Appelle in Erwägung zu ziehen. Neben dem an das Individuum gerichteten Gebot oder Verbot eines bestimmten Verhaltens und dem an den Staat gerichteten Gebot, diejenigen, die das Verhaltensgebot oder -verbot verletzen, zu bestrafen, komme ein an die internationale Gemeinschaft gerichtetes Gebot in Betracht, jedenfalls alle diejenigen zu sanktionieren, die menschenrechtswidrig Personen nicht sanktionieren würden, die gegen die internationalen Verhaltensnormen verstoßen.
Nach diesen grundlegenden Betrachtungen im Eröffnungsvortrag widmete sich Konstantina Papathanasiou als erste Referentin am Freitagmorgen der speziellen Problematik der Bedeutung der Normentheorie für das Strafanwendungsrecht im Angesicht der Digitalisierung. Ausgangspunkt ihrer Ausführungen war die im Anschluss an Ulfrid Neumann von ihr eingenommene Position, dass die §§ 3 ff. StGB als Tatbestandsmerkmale einzustufen und dementsprechend nicht unrechtsindifferent seien. Auf dieser Grundlage erläuterte Papathanasiou die strafanwendungsrechtlichen Probleme in den Bereichen Cyberkriminalität und Kryptobörsen. Im Hinblick auf die Cyberkriminalität unterstrich sie die Problematik, dass die hier verbreiteten potentiellen Gefährdungsdelikte keinen Erfolgsort i.S.v. § 9 Abs. 1 StGB begründen könnten, sodass ein Rückgriff auf andere Kriterien notwendig sei. Hinsichtlich Kryptobörsen nahm sie Bezug auf den Vorschlag der Kommission für eine Verordnung über Märkte für Kryptowährungen (MiCA). Dass die darin aufgestellten Marktmissbrauchsregelungen auch auf Handlungen und Unterlassungen in Drittländern anzuwenden sein sollen und über die §§ 3 ff. StGB der Anwendungsbereich der akzessorischen Strafgesetze entsprechend ausgedehnt werde, führe zur Zulassung der universellen Geltung von nationalen Strafgesetzen durch die Hintertür. In der nachfolgenden Diskussion warf Bock die Frage auf, warum eine Fremdrechtsanwendung im Zivilrecht, aber nicht im Strafrecht möglich sei und ob nicht der Gedanke der stellvertretenden Strafrechtspflege in einer globalisierten Welt neu gedacht werden müsse.
Der nachfolgende Vortrag von Yuki Nakamichi befasste sich mit der Universalisierung des normentheoretischen Potentials am Beispiel des Urheberrechts. Dabei zeigte Nakamichi generell das Potential der Normentheorie für eine einheitliche strukturelle Analyse der deutschen und der japanischen strafrechtlichen Urheberrechtsgesetze jenseits ihrer sprachlichen Unterschiede auf. Speziell ging er intensiv aus normentheoretischer Perspektive auf die auf Louis Kaplow zurückgehende Unterscheidung zwischen „Rules“ und „Standards“ ein, die sich in den Unterschieden zwischen den urheberrechtlichen Modellen der Rechtsschranken einerseits und des Fair Use andererseits widerspiegeln würden. In der anschließenden Diskussion wurde die Vorzugswürdigkeit von Rules oder Standards auf normentheoretischer Grundlage intensiv diskutiert, wobei insbesondere das mit Standards einhergehende Problem eines Mangels an Konkretisierbarkeit der Verhaltensnormen betont wurde. Hierzu bemerkte abschließend Behrendt, dass auf der Grundlage von Standards eine abschließende Erfassung der Verhaltensnorm letztlich unmöglich sei.
Fortgesetzt wurde die Tagung mit einem englischsprachigen Vortrag von Kyriakos Kotsoglou, in dem er die Struktur von Rechtsvermutungen analysierte. Einleitend wies Kotsoglou darauf hin, dass er die Normentheorie nicht ausschließlich im Sinne Bindings, sondern umfassender als Theorie der Analyse von Normstrukturen verstehe, weil das Recht sich angesichts seiner Komplexität nicht auf eine einzige Position reduzieren lasse. Von diesem Ausgangspunkt aus wies Kotsoglou mittels einer auf default-deontischer Logik beruhenden Analyse der Struktur der Unschuldsvermutung in Zusammenschau mit dem in § 261 StPO verankerten Grundsatz, dass der Richter nach seiner Überzeugung zu entscheiden habe, die Funktionslosigkeit des in dubio pro reo-Grundsatzes nach. Die von diesem Grundsatz vorausgesetzten Zweifel würden im Strafverfahren nicht existieren. Vielmehr sei der Angeklagte als unschuldig zu behandeln und freizusprechen, wenn nicht der gesetzliche Richter von seiner Schuld hinreichend überzeugt sei. In diesem Fall sei er zu verurteilen. Eine dritte Möglichkeit bestehe nicht.
Wie Kotsoglou betrachtete auch Antonio Martins in seinem nachfolgenden Vortrag die Normentheorie in einem umfassenden, nicht spezifisch an Bindings orientierten Sinn, indem er mit Blick auf die internationale Durchsetzung nationalen materiellen Strafrechts die potentielle Funktion der Normentheorie hinterfragte, als eine Universalgrammatik des Strafrechts zu fungieren und dadurch die normativ trotz gewisser Überschneidungen unterschiedlichen nationalen Rechtsordnungen durch die Schaffung einer Normativität zweiter Ordnung tendenziell zu vereinheitlichen. Angesichts der Bedeutung von sozialen und politischen Momenten für die Verhaltensnormbildung und die selektive sekundäre Kriminalisierung, die an den unterschiedlichen Bedürfnissen der verschiedenen Gesellschaften orientiert sei, sah Martins zwar die Möglichkeit, dass die verschiedenen Rechtsordnungen im gemeinsamen Diskurs voneinander lernen könnten. Die Konstruktion einer Universalgrammatik des Strafrechts in einem Metadiskurs finde jedoch nie ein Ende.
Nach den vier Vorträgen am Freitagvormittag wurde die Tagung am Nachmittag mit einem Workshop zu den Potentialen der Normentheorie für die straf- und strafverfahrensrechtliche Vernetzung und Vereinigung aus der Perspektive ausländischer Rechtsordnungen fortgesetzt. Der Thematik entsprechend setzte sich das Panel international zusammen. Hirokazu Kawaguchi aus Japan, Adem Sözüer aus der Türkei, Inês Godinho aus Portugal, Zhiwei Tang aus China und Juan Pablo Montiel aus Argentinien traten auf der Grundlage von Impulsvorträgen miteinander und mit den übrigen Anwesenden in die Diskussion.
In seinem einleitenden Beitrag stellte Hirokazu Kawaguchi die unterschiedliche Funktion der Bestrafung im Völkerstrafrecht und im von ihm so bezeichneten Bürgerstrafrecht heraus. Im Völkerstrafrecht diene die Bestrafung der Etablierung und im Bürgerstrafrecht der Erhaltung der Normgeltung. Kawaguchi setzte sich in letzterem Zusammenhang speziell mit der Einordnung des Rücktritts vom Versuch als Verhaltensnormfrage auseinander, die damit begründet werde, dass die Stellungnahme des Täters zur Geltung der Verhaltensnorm durch seinen Rücktritt in sich widersprüchlich werde, sodass das Bedürfnis nach Strafe als widersprechender Antwort auf die ablehnende Stellungnahme des Täters zur Normgeltung mit dem Rücktritt entfalle. Eine solche Sichtweise setze ein Verständnis des Versuchs als unvollständiges Delikt voraus.
Adem Sözüer zeigte in seinem Panelbeitrag wichtige Eckpunkte der Entwicklung des Strafrechts in der Türkei auf. Insbesondere ging er auf die dort hoch umstrittene Liberalisierung des Sexualstrafrechts ein, an der sich die Diskrepanz der gesellschaftlich akzeptierten Verhaltensnormen zeige. Auch viele Richter würden das liberalisierte Sexualstrafrecht in seiner jetzigen Form nicht akzeptieren. Die Gegenwehr komme aber generell aus verschiedensten Richtungen. Einen Höhepunkt habe die Debatte durch den von Präsident Recep Tayyip Erdoğan angeordneten Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor männlicher und häuslicher Gewalt zum 1. Juli 2022 erreicht. Hintergrund des derart eskalierenden Widerstands gegen die Liberalisierung des Sexualstrafrechts sei die Vorstellung, dass Verhaltensnormen von Gott gegeben und dem „Heiligen Buch“ zu entnehmen seien. Auf der Grundlage einer solchen Sichtweise könne es aber eine pluralistische Gesellschaft nicht mehr geben.
An eine facettenreiche Diskussion zu den Beiträgen der ersten beiden Panelisten schloss sich der Beitrag von Inês Godinho an. Sie berichtete, dass es in Portugal keine echte normentheoretische Diskussion gebe, weil kein eigenständiges Rechtswidrigkeitsurteil anerkannt werde. § 31 des portugiesischen Strafgesetzbuches, wonach ein Verhalten dann nicht strafbar ist, wenn seine Rechtswidrigkeit durch das Gesetz ausgeschlossen wird, deute allerdings darauf hin, dass ein Bedürfnis gesehen werde, die Existenz eines selbstständigen Unrechts zu betonen. Die Strafgesetze würden also Verhaltensnormen voraussetzen, dies aber nicht immer deutlich machen. Gerade dazu könne die Normentheorie einen Beitrag leisten. Dies unterstrich Godinho mit einem Zitat von Joachim Renzikowski, wonach die „Normentheorie als Metatheorie (…) die Strafrechtsdogmatik ins rechte Licht“ setzt (Renzikowski, in: Alexy (Hrsg.), Juristische Grundlagenforschung, 2005, S. 115 (137)).
Auf gleicher Linie bewegte sich der nachfolgende Beitrag Zhiwei Tangs, was daran unmittelbar deutlich wurde, dass er seine Ausführungen mit demselben Zitat von Renzikowski stützte, das auch Godinho herangezogen hatte. Tang betonte den Charakter der Normentheorie als potentiell universal überzeugende theoretische Struktur, die sich zu einer universalen Grammatik weiterentwickeln lasse. Um die Potentiale zu illustrieren, welche die Normentheorie demnach für die Analyse der Strafrechtsvorschriften jeder Rechtsordnung aufweist, ging Tang unter anderem auf den derzeit in den nationalen Rechtsordnungen unterschiedlich behandelten untauglichen Versuch und auf die Erheblichkeitsschwelle ein, die im chinesischen Strafrecht als Tatbestandsmerkmal verwendet werde. Aus normentheoretischer Perspektive erweise sich letzteres als bedenklich, weil damit eine Relativierung der Verhaltensnorm verbunden sei.
Im letzten Beitrag im Rahmen des Workshops zeigte Juan Pablo Montiel auf, dass strafprozessuale Vorschriften weder als Verhaltens- noch als Sanktionsnormen, sondern vielmehr als ermächtigende Normen und damit als eine dritte Normkategorie zu qualifizieren seien, was in der argentinischen Diskussion weitgehend verkannt werde. In diesem Kontext ging er auf den Unterschied zwischen Lasten und Obliegenheiten ein. Zwar würden sowohl Lasten als auch Obliegenheiten die Vornahme eines bestimmten Verhaltens empfehlen, um von einer günstigeren Regelung profitieren zu können. Der Verstoß gegen eine Obliegenheit sei dem Adressaten aber nur dann zurechenbar, wenn er die Möglichkeit zur Normbefolgung hatte. Bei Lasten sei dagegen unerheblich, ob der Adressat zur Normbefolgung in der Lage gewesen sei. Damit seien Obliegenheiten verschuldensabhängig, Lasten dagegen verschuldensunabhängig.
In der den Workshop abschließenden Diskussion wurde insbesondere anknüpfend an Godinhos Ausführungen kontrovers erörtert, ob prozessuale Normen als positive Ergänzungsnormen zur normativen Wahrheit oder aber als deren Begrenzung einzustufen seien, wie es Godinho vertreten hatte. Dabei wurde herausgestellt, dass den unterschiedlichen hierzu vertretenen Positionen die Unterscheidung zwischen prozessualer und materieller Wahrheit im common bzw. im civil law entspricht. Abgerundet wurde die Diskussion mit der Fragestellung von Behrendt, ob nicht ein Meta-Diskurs über Meta-Theorien erforderlich sei. Zwar werde eine Einigung zwischen den verschiedenen Arten von Normentheorien kaum möglich sein. Die Verdeutlichung, dass man materiell über dasselbe diskutiert, könne aber ggf. zu einem verständnisvolleren Diskurs führen.
Beendet wurde der erste Tagungstag mit kurzen Abschluss-Statements der Panelisten des Workshops.
Das erste Panel am Samstag, dem 10. September 2022, widmete sich speziell den Potentialen der Normentheorie für das europäische Strafrecht.
Eröffnet wurde der Tagungstag mit einem Vortrag von Laura Neumann zu den Potentialen der Normentheorie für die Angleichung des materiellen Strafrechts in der Europäischen Union. Neumann zeigte darin auf, dass die Normentheorie mit Blick auf die sog. Annexkompetenz des Art. 83 Abs. 2 AEUV bereits heute faktische Strukturgrundlage der Strafrechtsharmonisierung in der Europäischen Union sei. Deshalb könne sie als Mittel der Auslegung und zur Bestimmung der Reichweite der Annexkompetenznorm herangezogen werden. Überdies berge die Erhellung der normentheoretischen Kompetenzstruktur das Potential, die Normentheorie als Grundlage für eine Konsensbildung im strafrechtlichen Harmonisierungsprozess fruchtbar zu machen, weil sie die Debatte um die Legitimität der Annexkompetenz rationalisieren und insgesamt als rechtsordnungsübergreifende Verständigungsgrundlage dienen könne.
Auf den Beitrag von Neumann folgte ein Vortrag von Anne Schneider zur Harmonisierung des Strafprozessrechts. Nach einem Überblick über die Materie und einschlägige Rechtsakte stellte Schneider heraus, dass die strafprozessuale Norm eine Doppelnatur habe. Einerseits richte sie sich als spezielle Verhaltensnorm an die Strafverfolgungsbehörden, andererseits betreffe sie die Art und Weise der Sanktionsverhängung, zu der die Sanktionsnorm verpflichte. Die strafprozessuale Norm sei darum wesentlicher Bestandteil der Sanktionsnorm, sodass auch ihre Auslegung von Straftheorien und Strafzwecken abhängig sei, anhand derer Unterschiede im Strafprozessrecht als begründungsbedürftige Diskriminierungen gerechtfertigt werden müssten. Dieses Konzept wurde in der anschließenden Diskussion sehr positiv aufgenommen.
Den beiden Vorträgen schloss sich am Samstagvormittag ein weiterer Workshop an, der den Potentialen der Normentheorie aus völkerstrafrechtlicher Perspektive gewidmet war. Panelisten waren Stefanie Bock, Boris Burghardt und Markus Wagner.
Den Auftakt bildete der Beitrag von Markus Wagner. Darin ging er der Frage nach, welche Verhaltensnormen dem Völkerstrafrecht zugrunde liegen. Dies sei deshalb fraglich, weil die Normen des Völkerrechts an Staaten gerichtet seien, für einen (völ-ker)strafrechtlichen Vorwurf aber eine individualgerichtete Verhaltensnorm erforderlich sei. Eine solche könne zwar grundsätzlich aus individualadressierenden Sanktionsnormen abgelei¬tet werden, was aber nicht unproblematisch sei. Als andere Möglichkeiten, für das Völker¬strafrecht dennoch letztlich individualadressierende Verhaltensnormen zu gewinnen, erwog Wagner unter anderem einen Adressatenwechsel über Art. 25 S. 2 GG sowie die Ratifikation und innerstaatliche Umsetzung völkerrechtlicher Verträge in nationales Recht. In letzterem Fall müsse jedoch die völkerrechtliche Verhaltensnorm aus dem nationalen Recht gezogen werden. Eine in sich stimmige Lösung der Problematik sei letztlich nicht ersichtlich.
In seinem anschließenden Beitrag hob Boris Burghardt vier Problempunkte einer normentheoretischen Analyse des Völkerstrafrechts hervor, die an die Ausführungen Wagners anknüpften. Auch Burghardt sah das Generieren von Verhaltensnormen aus völkerstrafrechtlichen Normen als problematisch an. Schwierigkeiten bereite bereits, den Primärnormbereich herauszuarbeiten, an den die akzessorischen völkerstrafrechtlichen Normen jeweils anknüpfen. Ebenso problembehaftet sei aber auch die Ableitung konkreter einzelner Verhaltensnormen aus Einzelnormen des Völkerstrafrechts. In diesem Zusammenhang wies Burghardt unter anderen auf die Frage der Integration des Kontextelementes der völkerstrafrechtlichen Normen in die Verhaltensnormen hin. Zudem erwog er, bei der Generierung der Verhaltensnormen an den vorpositiven Kern des Völkerstrafrechts anzuknüpfen. Weiter stellte er Überlegungen zu den durch eine normentheoretische Betrachtung enthüllten Problemen des umgekehrten Verhältnisses des Rechts des Friedens- und des Kriegszustands zueinander an und warf abschließend die Frage auf, inwieweit konzeptionelle Nachschärfungen der in einem ganz anderen Kontext entwickelten Normentheorie auf der Grundlage der Überlegungen zum Völkerstrafrecht notwendig seien.
Anknüpfend an die Ausführungen Burghardts stellte auch Stefanie Bock weitere Überlegungen dazu an, wo das Kontextelement der völkerstrafrechtlichen Normen und besondere völkerstrafrechtliche Absichten zu verorten seien. Sie sprach sich insoweit für eine Zuordnung zur Sanktionsnorm aus, da durch das Kontextelement bzw. die besondere völkerstrafrechtliche Absicht die Sanktionierungsbefugnis der internationalen Gemeinschaft ausgelöst und ggf. von einer nationalen Gemeinschaft als Stellvertreterin der internationalen Gemeinschaft wahrgenommen werde.
In der abschließenden Diskussion wurde unter anderem der letztgenannte Gesichtspunkt der Zuordnung des Kontextelementes zur Verhaltens- oder Sanktionsnorm kontrovers erörtert. Martins und Wagner sprachen sich insoweit für eine Verortung in der Verhaltensnorm aus, um die völkerrechtliche Spezifizität des Verstoßes zu wahren und so die Korrelation der Unrechtsdimension der Verhaltensnorm mit der Sanktionsnorm zu gewährleisten. Wörner hinterfragte anschließend die Herkunft der völkerstrafrechtlichen Normen. Sie verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass die Verfassungen im 19. Jahrhundert nicht den Bürger adressieren sollten. Subjektive Rechte für den Bürger hätten sich vielmehr erst später entwickelt. Schließlich wurde unter Bezugnahme auf die Argumentationen Russlands zum Krieg in der Ukraine auf die allgemein bestehende Gefahr einer Instrumentalisierung des Völkerstrafrechts zu Legitimierungszwecken hingewiesen.
Mit dankenden und zusammenfassenden Worten sowie dem Ausblick auf weitere Projekte beendete schließlich Wörner als Gastgeberin die Sitzung.
Normentheorie im Zeitalter der Digitalisierung (18./19. Juni 2021)
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Am 18. und 19. Juni 2021 veranstalteten Frauke Rostalski und Milan Kuhli die Online-Tagung „Normentheorie im Zeitalter der Digitalisierung“. Die „Digitale Transformation“ beschreibt einen Paradigmenwechsel: den rasanten Wechsel zu einer weitgehend digitalisierten Arbeits- und Lebenswelt. Der Einsatz digitaler Technologien erstreckt sich tief in die Gesellschaft hinein; Daten und Algorithmen werden zum Teil ihrer Infrastruktur. Die Digitalisierung als gesellschaftliches Phänomen wirft auch im rechtlichen Bereich zahlreiche Fragen auf: Inwieweit verschieben sich Aspekte einer normentheoretischen Betrachtung im digitalen Zeitalter bzw. inwieweit ist eine normentheoretische Analyse des Rechts überhaupt noch tragfähig? Können Roboter bzw. digitale Maschinen Rechtsnormen anwenden und gegen Rechtsnormen verstoßen? Wie kann die Programmierung von Maschinen normentheoretisch rekonstruiert werden? Die digitale Transformation macht es einmal mehr nötig, sich auf die Fundamente unserer Rechtsordnung zu besinnen. Welchen Beitrag kann die Normentheorie zur Adressierung und Perspektivierung neuer Sachverhalte bzw. Rechtsfragen leisten?
Den Auftakt der zweitägigen Tagung machte Lorenz Kähler mit seinem Beitrag „Norm, Code, Digitalisat“. Von der Prämisse ausgehend, dass das Recht „im Kern als eine Menge von Normen“ zu verstehen sei, widmete er sich der Frage, ob Digitalisierung „eine Publikation, Duplikation oder gar Transformation des Rechts“ bedeute. Kähler warf dabei die These auf, dass es im Kontext einer Digitalisierung des Rechts darauf ankommt, ob es gelingt, nicht nur den Normtext zu digitalisieren, sondern darüber hinaus auch seinen semantischen Gehalt zu erfassen. In seinem Beitrag geht er dieser Frage weiter nach.
Stephan Meyers Vortrag „Digitale Anwendbarkeit von Rechtsnormen – Auch eine Frage des Rechtskreises?“ fragte danach, ob die Herausforderungen, die sich bei der autonomen Rechtsanwendung durch Systeme Künstlicher Intelligenz stellen, auch vom Rechtskreis abhängen. Verglichen werden der kontinentale Rechtskreis und der Common-Law-Rechtskreis. In seinem Beitrag schilderte Meyer zunächst kursorisch die erhofften Vorzüge autonomer Rechtsanwendung, die die Automatisierungsdebatte veranlassen. Anschließend wurden bereits vorhandene KI-basierte „Legal Tech“-Anwendungen vorgestellt und zukünftig zu erhoffende Fortschritte, die regel- und datenbasierte „Legal-Reasoning“-Ansätze zusammenbringen, erörtert. Unter Voraussetzung dieser Fortschritte, die den Maschinen zumindest in einem gewissen Umfang Weltwissen und die Fähigkeit zu „echtem“ Textverstehen verleihen könnten, wurde zuletzt nach der Eignung der beiden Rechtskreise zur Automatisierung gefragt.
Alexander Stöhr befasste sich in seinem Beitrag „Schädigung durch autonom handelnde Maschinen – Verantwortungszuweisung durch Haftungs-, Zurechnungs- und Beweisnormen“ mit der Frage, welche juristischen Lösungen im Hinblick auf die Haftung in Betracht kommen, wenn eine Schädigung durch autonom handelnde Maschinen erfolgt. Verantwortungszuweisung erfolge durch Normen, welche zunächst in Rechtsnormen, darunter Haftungsnormen, Zurechnungsnormen und Beweisnormen sowie ökonomische Normen kategorisiert werden. Anschließend erörterte Stöhr, inwieweit sich vertragliche und deliktische Haftung begründen lassen. Im Rahmen der deliktischen Haftung wurde neben der lex lata auch die Einführung einer Eigenhaftung der Maschinen sowie einer Gefährdungshaftung diskutiert.
Dem Beitrag von Alexander Stöhr folgte ein Kommentar von Inês Fernandes Godinho, in welchem die Verantwortungszuweisung bei Schädigung durch autonom handelnde Maschinen aus einer strafrechtlichen Perspektive beleuchtet wird. Godinho schilderte zunächst die Haftung von Personen wegen autonom handelnder Maschinen. Ausgehend hiervon wurde skizziert, welche Schwierigkeiten sich im Hinblick auf Fahrlässigkeitsdelikte im Rahmen der Zurechnung, insbesondere bei der Vorhersehbarkeit, ergeben, bevor Godinho darüber nachdachte, ob KI-basierte Systeme und Maschinen strafrechtlich haften (werden).
Der erste Tag wurde mit Alisa Hastedts Beitrag „Schranken statt Normen? Überlegungen zum Einfluss von Impossibility Structures auf Verhaltensnormen“ beendet. Dieser widmete sich der Frage, ob Mechanismen, die rechtswidriges Verhalten unmöglich machen sollen, die ihnen zugrunde liegenden konkretisierten Verhaltensnormen überflüssig machen. Diese Frage wurde nach einem Impulsvortrag von Alisa Hastedt gemeinsam mit den Teilnehmenden der Tagung in einem offenen Werkstattgespräch besprochen. Im Tagungsband findet sich hierzu keine Dokumentation.
Svenja Behrendts Beitrag „Entscheiden im digitalen Zeitalter. Überlegungen zu den Auswirkungen smarter Technologie auf Verhaltenspflichtbildung und Verantwortlichkeit“ thematisierte die Frage, welche Auswirkungen die Existenz künstlicher Intelligenz rechtstheoretisch auf die Verhaltenspflichten und auf die Verantwortlichkeit, genauer: die Rechtsverhältnisse unter Menschen hat. Behrendt zeigte zunächst auf, in welchen Konstellationen KI relevant werden kann. Hiervon ausgehend wird diskutiert, ob und inwieweit eine Pflicht zur Hinzuziehung von KI oder gar eine Pflicht zur Verwendung des maschinell erzeugten Ergebnisses bestehen kann und welche generellen Auswirkungen die Existenz von KI mit sich zieht.
„Algorithmen in der Rechtsanwendung“ bildeten das Thema des Beitrags von Roland Broemel. Er befasste sich mit verschiedenen Formen des Einsatzes von Legal Tech-Anwendungen bei der Bereitstellung von Rechtsdienstleistungen und deren rechtlichen Rahmenbedingungen.
Den Abschluss der Tagung bildete ein Vortrag von Philipp-Alexander Hirsch zu „Künstliche Intelligenz, normative Ansprechbarkeit und die normentheoretische Beschreibung des Strafrechts“. Hirsch nahm KI in den Blick, die zwar normativ ansprechbar ist, ohne jedoch bereits voll verantwortlicher Akteur zu sein. Verletzt so beschaffene KI strafbewehrte Verhaltensnormen, entstünden straffreie Räume. Hirsch zeigte auf, warum und wie solche KI normativ ansprechbar ist und welche Konsequenzen sich hieraus für die normentheoretische Beschreibung des Strafrechts ergeben. Dabei griff er auf Erkenntnisse der Maschinenethik zurück, weil dort im Vergleich zur juristischen Normentheorie die Debatte um normative Akteurschaft weiter vorangeschritten sei.
Kollektivierung als Herausforderung für das Strafrecht (Bonn, 18./19. Oktober 2019)
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Für die Strafrechtswissenschaft gilt Bonn mit ihren Strafrechtslehrern Hans Welzel und Armin Kaufmann als die Geburtsstätte moderner Normentheorie. Es gibt also kaum eine bessere Stadt, in der der Arbeitskreis Normentheorie sich zu einem zweiten Workshop hätte zusammenfinden können. Am 18. und 19.10.2019 luden Konstantina Papathanasiou und Kay H. Schumann dazu ein, um aus normentheoretischer Perspektive über die „Kollektivierung als Herausforderung für das Strafrecht“ zu sprechen. Neben den Mitgliedern des Arbeitskreises bereicherten die prominenten Normentheoretiker Urs Kindhäuser und Joachim Renzikowski den Workshop um zwei Gastvorträge; unter die Zuhörer gesellte sich unter anderem Ingeborg Puppe und befeuerte die Diskussion mit scharfsinnigen Fragen und Kommentaren.
Den Anfang machte Urs Kindhäuser mit seinem Gastvortrag „Pflichtverletzung bei gemeinschaftlicher Tatbegehung. Semantische Probleme der Beteiligungslehre“. Er behandelte dabei die Frage, weshalb Mittäter wechselseitig für ihre Tatbeiträge verantwortlich gemacht werden können, obwohl jeder Mittäter nur durch eigenes pflichtgemäßes Alternativverhalten die Tat vermeiden konnte. Die Tatbeiträge der Mittäter als Leistung einer Kollektivperson zu betrachten helfe nicht weiter, weil dies nur den logischen Schluss auf die Verantwortlichkeit des Kollektivs ermögliche, nicht aber den Schluss auf die Verantwortlichkeit seiner Mitglieder. Daraus folge, dass mittäterschaftliches Unrecht ebenso wie das Teilnahmeunrecht akzessorischer Natur sei. Die Mittäterschaft zeichne sich allerdings im Gegensatz zur herkömmlichen – einseitigen – Teilnahme durch eine wechselseitige Teilnahme aus. Der Mittäter verletze insofern eine andere Norm als der Einzeltäter, weil sie das Element der Gemeinschaftlichkeit in sich aufnehmen müsse. Kindhäuser wies schließlich darauf hin, dass die normentheoretische Analyse der Mittäterschaft noch am Anfang steht. Kay H. Schumann beschloss den ersten Tag des Workshops mit normentheoretischen Überlegungen zu den sog. kollektiven Rechtsgütern.
Der zweite Tag des Workshops startete mit dem Gastvortrag von Joachim Renzikowski über „Kollektive als Zurechnungssubjekte“. Der Referent wies darauf hin, dass „Personen“ als Zurechnungssubjekte kein Gegenstand der Empirie sind, sondern der Welt des Rechts bzw. der praktischen Philosophie angehören. Die Rede von der „natürlichen Person“ neben der „juristischen Person“ sei daher irreführend, weshalb Renzikowski an deren Stelle die Begriffe der „persona moralis simplex“ und „persona moralis compositas“ setzt. Im Gegensatz zu Kindhäuser gelangt Renzikowski – unter anderem unter Rückgriff auf Kant und Pufendorf – zu dem Ergebnis, dass die Taten des Kollektivs nicht nur dem Kollektiv, sondern jedem Mitglied desselben zugerechnet werden können. Obgleich die Teile des Ganzen aus einzelnen physischen Personen bestünden, sei jede Handlung, die eine Einzelperson in ihrer Funktion als Teil des Ganzen vornimmt, eine Handlung des Ganzen und somit auch eine Handlung jeder Einzelperson. Vor diesem Hintergrund erörterte Renzikowski sodann beispielhaft strafrechtsdogmatische Probleme.
Anne Schneider behandelte die normentheoretischen Probleme bei „Grenzüberschreitender Beteiligung“. Probleme träten insbesondere dann auf, wenn die Wertungen der Rechtsordnungen, nach deren Maßgabe das Verhalten der Tatbeteiligten zu beurteilen ist, erheblich voneinander abweichen. Dies leite zunächst über zum Geltungsbereich von Verhaltens- und Strafsanktionsnormen. Während letzterer durch die §§ 3 ff. StGB geregelt ist, müsse der Geltungsbereich der Verhaltensnormen einheitlich und rechtsgebietsübergreifend bestimmt werden. Hierfür biete sich ein Rückgriff auf die Regelung des Art. 17 Rom-II-VO an, wonach grundsätzlich die Verhaltensnormen des Handlungsortes gelten. Die Konsequenzen ihrer Konzeption exemplifizierte Schneider sodann anhand mehrerer Beispielsfälle. Die normentheoretische Analyse der grenzüberschreitenden Beteiligung eröffne den Blick auf methodische Ansätze, mit deren Hilfe die Ausuferung der deutschen Strafbarkeit eingedämmt werden kann.
Sodann beleuchtete Markus Wagner „‚Die‘ Verhaltensnorm der strafrechtlichen Geschäftsherrenverantwortlichkeit“. Den roten Faden bildet die von Wolfgang Frisch – immer wieder – aufgestellte Forderung, dass es die zentrale Aufgabe der (Straf-)Rechtswissenschaft sein müsse, in präzise formulierter Art und Weise die Verhaltensnormen herauszuarbeiten, auf deren Negierung ein strafrechtlicher Vorwurf nach Maßgabe der jeweiligen Sanktionsnorm aufbauen kann. Gerade im Kontext der Geschäftsherrenverantwortlichkeit finde diese Forderung in der Rechtspraxis nur selten Beachtung, wie Wagner an einem aktuellen Beispiel aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs präsentierte. Dies führe zu einer Überschätzung des Einflusses der Geschäftsherren auf eine mögliche Unrechtsverwirklichung seiner Untergebenen und in der Folge oftmals zu einer inakzeptablen Ausweitung der Strafbarkeit. Der Vortrag zeigte auf, dass die Normentheorie den Rechtsanwender dazu zwingt, die Verhaltensalternativen der Geschäftsherren explizit offenzulegen. Hierbei könne es sich ergeben, dass dem Geschäftsherrn bei der Vermeidbarkeit der Unrechtsverwirklichung erhebliche Grenzen gesetzt sind.
Nach einer Mittagspause hielt Inês Fernandes Godinho einen Vortrag über „Die Kollektivierung der Norm und kollektive Normen“. Den Zusammenhang zwischen der „Kollektivierung“ und Normen stellt sie wie folgt dar: Erst (und nur) aus der Kollektivierung im Sinne eines Zusammenschlusses von Menschen zu einer Gemeinschaft entstehe der Bedarf nach Normen. Normen würden jedoch nur dann akzeptiert, wenn ihr Autor eine entsprechende Legitimität aufweisen könne. Nur dann gelte er als Normgeber. Unter „kollektiven Normen“ seien Normen zu verstehen, die alle Beteiligten betreffen – wer aber ist Beteiligter in diesem Sinne? Nach Godinho können dies nur die Mitglieder der Gemeinschaft sein, die durch die „Kollektivierung“ zu solchen geworden sind.
Luna Rösinger beschäftigte sich in ihrem Vortrag mit dem „Rechtsgrund der Inanspruchnahme des Einen zugunsten des Anderen im sog. Aggressivnotstand“. Den Aggressivnotstand deutete sie dabei als einen Fall, in dem Gefahren durch das Recht „kollektiviert“ bzw. „umverteilt“ werden. Rechtsphilosophische Überlegungen führen nach Rösinger zu dem Ergebnis, dass die Freiheit des Eingriffsadressaten beim Aggressivnotstand nur aufgrund seiner Solidaritätspflicht Einschränkungen erfahren darf. Das habe zum einen zur Konsequenz, dass die Gefahr einem Rechtsgut drohen muss, das eine wesentliche Bedeutung für die Freiheitsverwirklichung haben muss, zum anderen, dass Notstandshandlungen nur allenfalls partiell ersetzliche Beeinträchtigungen hervorrufen dürfen.
Den Schluss machte Stefanie Bock mit ihrem Vortrag „Mitgegangen – mitgehangen? Die Beteiligung an gefährlichen Gruppen i.S.d. § 184j StGB“, in dem sie die jüngst eingeführte Strafvorschrift des § 184j StGB aus normentheoretischer Perspektive erörterte. Die Vorschrift sei als eine Reaktion des Gesetzgebers auf die sexuellen Übergriffe, die in der Silvesternacht 2015/2016 vorgefallen sind, zu verstehen. Zwar ließe sich vor dem Hintergrund dieser Ereignisse grob nachvollziehen, welche Sachverhalte der Gesetzgeber unter Strafe gestellt wissen will. Terminologie und Regelungsstruktur des § 184j StGB seien allerdings sehr diffus und kaum fassbar, weshalb die Abgrenzung zwischen erlaubtem und verbotenem (sowie strafbarem) Verhalten erhebliche Schwierigkeiten bereite. Bock gelangte zu dem Ergebnis, dass es sich bei der Strafnorm nicht um ein Sexualdelikt, sondern um eine systemische, gruppenbezogene Zurechnungsregel handelt. Da sie aber unter schwerwiegenden Mängeln leide, plädiert Bock dafür, sie ersatzlos zu streichen.
Normentheorie und Strafrecht (Gießen, 23./24. Februar 2018)
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Vom 23. bis zum 24.2.2018 fand in Gießen der Workshop „Normentheorie und Strafrecht“ statt. Ziel dieser von Anne Schneider und Markus Wagner initiierten und organisierten Zusammenkunft war es, gemeinsam über die Hintergründe der Normentheorie und ihre Bedeutung für das Strafrecht zu reflektieren.
Den Auftakt hierzu machte Fedja Alexander Hilliger, der in seinem Beitrag die rechtstheoretischen Voraussetzungen der Normentheorie Bindings untersuchte: Die Unterscheidung zwischen Strafgesetzen und Verhaltensnormen sowie die Annahme, letztere seien ersteren gegenüber selbstständig, implizierten zum einen eine Absage an einen Rechtsrealismus, der Recht nicht als ideelles, sondern als bloß tatsächliches Phänomen begreift, und zum anderen einen „niedrigschwelligen“ Rechtsbegriff, wonach Rechtssätze ohne Sanktionen denkbar seien.
Kritisch ging sodann Kyrakos N. Kotsoglu mit Normentheorien im Gefolge Bindings zu Gericht, denen er vorwarf, sie seien zu unterkomplex, um den Herausforderungen moderner Rechtsordnungen und dem erreichten Stand ihrer dogmatischen Durchdringung gerecht zu werden, weil sie der naiven Anschauung anhingen, das rechtlich Gesollte lasse sich laienverständlich in Form einer präzisen Verhaltensnorm aus den geschriebenen Gesetzen herausdestillieren. Zudem konzipierten sie das Verhältnis von Staat und Bürgern im Wesentlichen als ein solches von Befehl und Gehorsam, von Souverän und Untertan.
Im Hinblick auf das Strafverfassungsrecht beurteilte Boris Burghardt in seinem sich anschließenden Beitrag den Ertrag der Normentheorie ebenfalls kritisch: Seines Erachtens habe die auch in der Rechtsprechung des BVerfG teilweise praktizierte Differenzierung zwischen Verhaltens- und Sanktionsnorm den Blick darauf verstellt, dass bereits die Entscheidung, eine strafrechtliche Verhaltensnorm aufzustellen, die Wertung impliziere, dass diesem Ge- oder Verbot (bzw. den dadurch geschützten Rechtsgütern) eine herausragende soziale Bedeutsamkeit zukomme.
Mit anderer Stoßrichtung ging auch Laura Neumann in ihrem Beitrag davon aus, dass die dualistische Normentheorie als rechtstheoretisches Konstruktionsprinzip gegenüber der Art der verletzten Verhaltensnorm und der Art der angedrohten Sanktion indifferent sei. Aus diesem Grund habe die Normentheorie die Verschmelzung von Kriminal- und Verwaltungsstrafrecht zu einem einheitlichen Sanktionenrecht in den europäischen Staaten katalysiert und könne künftig als rechtskonstruktivistische Grundlage für ein einheitliches Sanktionenrecht in Europa dienen.
Ziel des sich anschließenden Vortrags Frauke Rostalskis, der den Übergang zu den strafrechtsdogmatischen Konsequenzen der Normentheorie markierte, war es, aufzuzeigen, dass Unrecht und Schuld auf Grundlage eines normentheoretischen Verständnisses des Straftatbegriffs nicht zu trennen seien. Denn die Verhaltensnorm, deren Verletzung das Unrecht ausmache, könne sich von vornherein nur an solche Adressaten richten, die zu ihrer Befolgung überhaupt imstande und d.h. schuldfähig seien, weil alles andere auf ein „Selbstgespräch“ des Gesetzgebers hinauslaufe.
Den Abschluss des ersten Workshop-Tages stellte Milan Kuhlis Beitrag zur Frage des notwendigen Vorsatzbezugs bei Rechtsverweisungen dar, in dem er die These vertrat, dass normative Tatbestandsmerkmale und Blankettelemente normentheoretisch nicht eindeutig voneinander abzugrenzen seien, weshalb die Frage nach dem erforderlichen Inhalt des Vorsatzes auch nicht von einer solchen Abgrenzung abhängig gemacht werden dürfe. Vielmehr müsse sich der Vorsatz im Grundsatz sowohl auf die tatsächlichen Voraussetzungen der Norm(en), auf die der jeweilige Tatbestand verweist, als auch auf die daraus resultierenden Rechtsfolgen beziehen.
Weil der ursprünglich geplante Vortrag von Jan Dehne-Niemann und Julia Marinitsch zu der Bedeutung der Normentheorie für die Lösung des „Rose-Rosahl-Falls“ leider kurzfristig entfallen musste – er befindet sich aber im Tagungsband –, begann der zweite Sitzungstag mit dem Vortrag von Sören Lichtenthäler zu den Konsequenzen der Normentheorie für die ungleichartige Wahlfeststellung. Obwohl nach seiner Beobachtung bei der jüngsten Debatte um die Verfassungsmäßigkeit wahldeutiger Verurteilungen explizit als „normentheoretisch“ bezeichnete Argumente ins Feld geführt wurden, gelangte er letztlich zu dem Schluss, dass sich aus der Normentheorie allein keine Antworten auf derlei Fragen ergeben.
Es folgte der Vortrag Stephan Asts, in dem er anhand einer normentheoretischen Analyse des Betrugs aufzeigte, wie die Umformulierung eines Straftatbestands zu Verhaltensnormen vonstattengehen kann, was dabei handlungs- und normtheoretisch zu beachten ist und welche Folgen damit für die Auslegung verbunden sein können.
Thomas Grosse-Wilde gab sodann einen Überblick über die „Vielheit der Normentheorien im englischsprachigen Rechtsdiskurs“, in dem er auf die Unterscheidung von Verhaltens- und Sanktionsnormen bei Bentham, auf die von Hart formulierte Kritik an Kelsens unitaristischer Normentheorie sowie auf die Diskussion um die von Dan-Cohen eingeführte Differenzierung von conduct und decision rules einging.
In ihrem darauffolgenden Vortrag setzte sich Konstantina Papathanasiou vor dem Hintergrund der Normentheorie Bindings mit der für das sog. internationale Strafrecht gängigen Meinung auseinander, wonach die Verhaltensnormen universell gelten und lediglich die Sanktionsnormen durch das Strafanwendungsrecht begrenzt würden: Diese sei u.a. mit dem seit langer Zeit als Völkergewohnheitsrecht allgemein anerkannten Prinzip der Nichteinmischung unvereinbar, weshalb Verhaltens- und Sanktionsnormen denselben Geltungsbereich haben müssten und das Strafanwendungsrecht auch nicht, wie herrschend angenommen, unrechtsneutral sei.
Den Abschluss der ersten Tagung des Arbeitskreises bildete das Referat von Liane Wörner, in dem sie der „Karriere“ des Topos von der Funktionstüchtigkeit der (europäisierten) Strafrechtspflege in der Rechtsprechung des EuGH nachspürte und deren Bedeutung normentheoretisch auf das Auseinanderfallen von Norminhaltsbestimmung und Sanktionsadressierung zurückführte. Das Ziel einer möglichst funktionstüchtigen Strafrechtspflege finde seine Grenze aber in den Freiheitsrechten des Beschuldigten, die komplementär sowohl durch die Union als auch durch die Mitgliedsstaaten garantiert würden.