16.07.2024
Prof. Dr. Heng-da Hsu
Zur actio libera in causa aus der normentheoretischen Perspektive
In der Strafrechtstheorie bleibt die Behandlung Fälle der „actio libera in causa“ umstritten. Die herrschende Meinung in Deutschland und Taiwan vertritt eine Vorverlagerungstheorie, nach der das Koinzidenzprinzip von Tatbegehung und Schuldvorwurf jedenfalls ein unverzichtbares Grundprinzip des Strafrechts ist. Aufgrund der besonderen Struktur der actio libera in causa könne der Zeitpunkt der „tatbestandsmäßigen Handlung“ jedoch vom im Rauschzustand begangenen Verhalten auf das Rauschtat „vorverlegt“ werden. Im Gegensatz dazu wurde von Hruschka das Ausnahmemodell vorgeschlagen und von Neumann und Kindhäuser weiterentwickelt. Dementsprechend könne eine Ausnahme vom Koinzidenzprinzip angenommen werden. Die Strafbarkeit des Täters beziehe sich direkt auf das tatbestandsmäßige Verhalten im späteren Rauschzustand, man komme jedoch aufgrund der Ausnahme vom Koinzidenzprinzip zur Bejahung der Schuldfähigkeit bei der Tatbegehung.
Hsu verfolgt in seinem Vortrag durch die Unterscheidung zwischen Handlungspflicht und Obliegenheit ein „modifiziertes Ausnahmemodell". Demnach begründet nur die Ausführung der „typisch tatbestandsmäßigen“ Tat das tatbestandliche Handlungsunrecht. Die Obliegenheit entsteht aus dem indirekten Bedürfnis zum Schutz der Rechtsgüter. Ihre Verletzung, nämlich das Sich-Versetzen in den Defektzustand, wirkt mittelbar auf den Zeitpunkt der Handlungspflichtverletzung, wodurch der Täter nicht mehr die ursprünglich zu diesem Zeitpunkt geltende strafrechtliche Entlastung in Anspruch nehmen kann.
Taiwan hat im Jahre 2005 in Artikel 19 Abs. 3 tStGB eine ausdrückliche Bestimmung zur actio libera in causa eingeführt. Die Gesetzgebung in Taiwan bewegt sich eindeutig in Richtung des Ausnahmemodells, was grundsätzlich als der richtige Ansatz zu betrachten ist. Allerdings bedarf es einer dogmatischen Klärung aus der normentheoretischen Perspektive. Die Fragen, unter welchen Umständen die „Verletzung einer Obliegenheit“ festgestellt und daraus die Rechtsfolge von Nicht-Berufen auf Fehlen der Schuldfähigkeit abgeleitet werden kann, stehen im Mittelpunkt. Nach Hsus Auffassung gibt es zwei Voraussetzungen zur Nicht-Berufung auf Entschuldigungsgrund bezüglich der Schuldunfähigkeit:
(1) Objektiver Kausalzusammenhang zwischen Rauschtat und „Defektzustand“
(2) Subjektiver Verschuldenszusammenhang: Der Täter muss vorsätzlich den Defektzustand in der Absicht herbeiführen, im schuldunfähigen Zustand eine bestimmte tatbestandsmäßige Tat zu begehen
Nur dann können die Anforderungen des modifizierten Ausnahmemodells erfüllt sein, sodass dem Täter die Berufung auf die Schuldfähigkeitseinrede verwehrt bleibt und die rechtliche Beurteilung die vollständige Schuldfähigkeit wiederherstellt.
19.07.2023
Dr. Pepe Schladitz
Normentheorie und Vorsatzdelikt
Die dualistische Normentheorie in der Nachfolge Karl Bindings, nach welcher zwischen Verhaltens- und Sanktionsnormen zu differenzieren ist, wird in der literarischen Auseinandersetzung schwerpunktmäßig im Kontext der Fahrlässigkeitsdelikte diskutiert. Pepe Schladitz befasste sich in seinem Vortrag demgegenüber schwerpunktmäßig mit den systematischen und dogmatischen Konsequenzen für den Begriff des Vorsatzes und seiner Systematik. Schladitz stellte zunächst seine eigene normtheoretische Konzeption vor, die in kritischer Analyse zum normtheoretischen Unterbau der herrschenden Lehre von der objektiven Zurechnung entwickelt wurde. Mit dieser Lehre wurden die Verhaltensnormen zwar als Gefahrverursachungsverbote gedeutet, die maßgebliche Perspektive für die zu bildenden Verhaltensanforderungen sei entgegen der herrschenden Ansicht jedoch nicht diejenige einer objektiven Maßstabsperson, sondern – der personalen Unrechtslehre entsprechend – der konkrete Bürger. Hieraus folgert Schladitz einen einstufigen, individualisierten Fahrlässigkeitsbegriff. Den Vorsatzdelikten liege demgegenüber qualitativ andersartige primäre Verhaltensnormen als dem Fahrlässigkeitsdelikt zugrunde, weshalb in diesem Zusammenhang die sog. aliud-These richtig sei. Diese These unterstrich Schladitz mit der Strafbarkeit des untauglichen Versuchs sowie Fällen des unvermeidbaren Erlaubnistatumstandsirrtums, deren Lösung die herrschende Ansicht vor große systematische Probleme stelle. Zuletzt illustrierte Schladitz systematische Folgerungen seiner Vorsatzkonzeption: Weil mit Frisch Vorsatzgegenstand das Verhalten in seiner verbotsrelevanten Dimension sei, sei auch bei Blanketttatbeständen an der Schuldtheorie festzuhalten. Zuletzt plädierte Schladitz für die Identität von Verletzungs- und Gefährdungsvorsatz. Mit der Ausgestaltung des § 315d Abs. 2, 5 StGB sei der Gesetzgeber schlecht beraten gewesen.
Zur Vertiefung: Schladitz, Normtheoretische Grundlagen der Lehre von der objektiven Zurechnung – Sicheres Fundament oder Achillesferse?, 2021; ders., ZStW 134 (2022), S. 97
14.02.2023
Dr. Svenja Behrendt
Überlegungen zum Versuch des Unmöglichen: Die konzeptionelle Bewältigung von Unmöglichkeit in der Strafrechtstheorie und das Potential eines konstruktivistisch-diskurstheoretischen Rechtsverständnisses
Der Vortrag befasste sich mit der konzeptionellen Bewältigung des Phänomens der Unmöglichkeit in der Strafrechtstheorie. Es ging zentral um die Frage, unter welchen Umständen ein Vorwurf strafrechtlichen Unrechts legitimiert werden kann, obwohl das Handlungsprojekt faktisch den beabsichtigen Erfolg nicht herbeiführen wird oder es aus rechtlichen Gründen gar nicht als strafrechtlich relevantes Handlungsprojekt angesehen wird. Svenja Behrendt befasste sich idealtypisierend mit unterschiedlichen Ansätzen der Unrechtsbegründung, unterschied streng objektive (Objektivität aufgrund eines deterministischen Weltbildes), schwach objektive („Verobjektivierung“ der Verhaltensnorm, fiktiver objektiver Dritter als Maßfigur) und subjektive Ansätze. Es wurde dargestellt, weshalb kein Ansatz überzeugen kann und weshalb es dem herrschenden gemischt subjektiv-objektiven Ansatz an einem belastbaren theoretischen Fundament fehlt.
Behrendts Kernthese lautet, dass das Problem in dem Rechtsverständnis und der Konzipierung der Verhaltensnorm liegt. Sie plädierte dafür, sich in der Fachdiskussion von der Annahme eines einheitlichen Normkonzepts zu lösen. Lege man ein konstruktivistisch-diskurstheoretisches Rechtsverständnis zugrunde, werde deutlich, dass der Bruch einer strafrechtlichen Verhaltensnorm in allen strafrechtlich diskutierten Fällen vorliege und die Frage in den Vordergrund rücke, ob auf die Betätigung eines auf den Bruch einer strafrechtlichen Verhaltensnorm gerichteten Willens überhaupt kommunikativ reagiert werden müsse und, wenn ja, ob dies auf förmliche Art und Weise geschehen müsse. Wenn der beobachtende/beurteilende Interpret (z.B. Staatsanwalt oder Richter) nicht einmal in Bezug auf die abstrakte Verhaltensnorm die Ansicht des handelnden Akteurs teilt, dann bestehe grds. kein Anlass zur kommunikativen Reaktion. Anders sei das ggfs., wenn er – ebenso wie der handelnde Akteur – annimmt, dass es strafbewehrt untersagt ist, einen bestimmten Erfolg herbeizuführen (z.B. einen Menschen zu töten) und nur der Ansicht ist, dass die abstrakte Norm das konkrete Handlungsprojekt nicht untersagt (insbes. Fälle des abergläubischen Versuchs).
Zur Vertiefung vgl. Behrendt, ZfIStw 2023, 20
26.08.2022
Prof. Dr. Juan Pablo Montiel
Verantwortungsstrukturen und anomale Kontexte
Juan Pablo Montiel vertritt vor allem die These, dass die strafrechtliche Dogmatik ernsthafte Probleme bei der Feststellung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit in anderen Fällen als solchen vorsätzlicher und vollendeter Straftaten aufwirft. Seiner Meinung nach hat die herrschende Lehre versucht, alle Fälle zu lösen, indem sie die Regeln dieser Straftaten an alle Kontexte angepasst hat. Zur Klärung der Probleme beginnt Montiel mit einer Unterscheidung zwischen den Begriffen "Verbrechen" und "Verantwortungsstruktur", wobei er davon ausgeht, dass es einen einzigen Verbrechens-Begriff gibt, der in verschiedenen Strukturen verwendet werden kann. Dieser Begriff des “Delikts” besteht aus der Verbindung zweier unverzichtbarer Attribute: zum einen der “Normwidrigkeit”, die die Tat mit dem Begriff “Strafwürdigkeit” oder “Unrecht” verbindet, und zum anderen denjenigen der “Zurechenbarkeit” (zur Tat und Schuld).
Die Unterscheidung zwischen "Delikt" und "Verantwortungsstruktur" erlaubt es Montiel schließlich, zwei Gruppen von Strukturen zu unterscheiden: die Hauptstruktur und die subsidiären Strukturen. Die Hauptstruktur entspricht den vorsätzlichen vollendeten Straftaten und ihr Primat ist auf historische Gründe zurückzuführen, die sich auch in der auf globaler Ebene vorherrschenden Gesetzgebungstechnik widerspiegeln: Die Strafgesetzbücher sind Gesetzbücher für vorsätzliche Straftaten mit besonderen Regeln für die Zuschreibung der Verantwortlichkeit, wenn die elementaren Bedingungen nicht erfüllt sind. Die Regeln des Versuchs und der Fahrlässigkeit erscheinen somit als Ausnahmen von der Regel der vorsätzlich vollendeten Straftaten. Gerade dieser Umstand zeigt jedoch, dass die Hauptstruktur durch subsidiäre Strukturen ergänzt werden muss, wenn nicht alle Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen. In seinem Vortrag argumentiert Montiel für die Existenz von zwei subsidiären Strukturen: des Versuchsdelikts und des defektbehafteten Erfolgsdelikts.
Montiel argumentiert, dass eine Strafe im Falle des Versuchs nur dann verhängt werden kann, wenn davon ausgegangen wird, dass es sich um eine selbständige Straftat und nicht um eine abgeleitete Form der Verantwortlichkeit handelt. Andernfalls würde der Täter auch in dem Fall bestraft, in dem zwar die Voraussetzungen der Zurechnung erfüllt sind, aber die Normwidrigkeit nicht gegeben ist. In diesem Sinne folgert Montiel, dass zur Überwindung dieser Schwierigkeit die Regelung des Allgemeinen Teils, die den Versuch anerkennt, eine Beschreibung der Eigenschaften bietet, die ein Verhalten aufweisen muss, um als normwidrig zu gelten.
Die zweite subsidiäre Struktur der Verantwortlichkeit wird als "defektbehaftetes Erfolgsdelikt" bezeichnet. Sie umfasst Fälle der actio libera in causa, actio illicita in causa, Fahrlässigkeit, usw., also solche, in denen der Täter eine tatbestandsmäßige Handlung unter einem selbstverschuldeten Verantwortungsmangel vornimmt. Damit in diesen Fällen alle Tatbestandsmerkmale gleichzeitig vorliegen, ist die Handlung zu einzubeziehen, durch die der Verantwortungsmangel verursacht wird, wobei jedoch zu berücksichtigen ist, dass sie mittelbar zur Verwirklichung der entsprechenden Tatbestand führen kann.
Schließlich konzentrierte sich Montiel auf die Möglichkeit, die subsidiären Strukturen miteinander zu kombinieren und auf die Folgen, die sich aus einer solchen Kombination ergeben können. Darunter stechen zwei Folgen hervor, die für das traditionelle Verständnis der Straftatslehre besonders relevant sind: In diesem System ist die begriffliche Möglichkeit eines Versuchs bei sogenannten "fahrlässigen Straftaten" möglich und jede Form von "unbewusster Fahrlässigkeit" muss von strafrechtlicher Verantwortlichkeit ausgeschlossen werden.
08.04.2022
Prof. Dr. Wolfgang Spohn
Das Räsonieren mit bedingten Normen
Im 1. Teil ging es um grundsätzliche Unterscheidungen in der Rede von Normen: Normen als Sollenssätze, kategorische und bedingte (= hypothetische) Normen, Normen und Normeninstanz, implizite und explizite Geltung von Normen, Normen als empirische Sachverhalte aus der externen Dritte-Person-Perspektive, Normen als genuine, nicht deskriptiv reduzierbare in der Ersten-Person-Perspektive. Nur um letztere Perspektive geht es in allem Weiteren.
Der 2. Teil befasste sich mit einer Kritik der Rechtslogik, welche juristische Schlüsse, insbesondere den juristischen Syllogismus, mit den Mitteln der klassischen Logik zu formalisieren versucht. An Beispielen wurde gezeigt, dass diese Schlüsse prinzipiell nicht-monoton oder ‚defeasible‘ sind und auf einem nicht-monotonen Konditional beruhen, welches sich mit der klassischen Logik nicht behandeln lässt.
Im 3. Teil wurden kurz die Grundpostulate der Logik kategorischer Normen erläutert. Diese bilden ein Teilgebiet der philosophischen Logiken, nämlich die deontische Logik, für die sich ein Standardsystem herausgebildet hat. Es ist strukturgleich mit der doxastischen Logik (der Logik rationalen Glaubens). Natürlich sind alle diese Logiken nie frei von Einwänden.
Im 4. Teil ging es um die Erweiterung zu einer Logik der bedingten Normen. Hierzu muss man sich in die seit 1968 entwickelte Konditionallogik vertiefen, in der es eben genau um das für die Formalisierung juristischer Schlüsse benötigte nicht-monotone Konditional geht. Das hat sich zu einem verzweigten Gebiet entwickelt. Ein wichtiger, auch von Spohn vertretener Ansatz beruht auf dem so genannten Ramsey-Test und einer doxastischen Interpretation des Konditionals.
Der 5. Teil erläuterte, dass sich dieser Ansatz ebenso zum Verständnis bedingter Normen und ihrer logischen Erfassung eignet. Des Weiteren wurde ausgeführt, welche dramatischen Konsequenzen es für das Selbstverständnis der Rechtstheorie hat, wenn man diesen Ansatz ernstnimmt. Aber man muss ihn ernst nehmen. Das bisherige Selbstverständnis auf der Basis der klassischen Logik hat sich schließlich als unzulänglich erwiesen.
Im 6. Teil ging es um Chisholms Paradox, wie es heißt. In der deontischen Logik ist unklar, wie man damit angemessen umgehen soll. Spohn hat es eingeführt, um eine grundlegende Ambiguität zu erläutern, die die gesamte normative Rede durchzieht (und die nach Spohn dem Paradox zugrunde liegt): nämlich die Ambiguität zwischen reinen Normen und faktengeleiteten Normen (in Analogie zur Unterscheidung zwischen intrinsischen und extrinsischen Werten oder „gut an sich“ und „gut als Mittel“). Spohns Ausführungen zur Logik bedingter Normen waren ebenso ambig, aber genau genommen konnten sie sich nur auf die reinen Normen beziehen.
Im 7. Teil wurde ein Ausblick darauf gegeben, was noch zu leisten wäre, um auch zu einer Logik faktengeleiteter Normen zu gelangen (um die es fast immer im juristischen Kontext und jedenfalls im juristischen Syllogismus geht). Hierzu wäre ein Eingehen auf die von Spohn seit 40 Jahren entwickelte und propagierte so genannte Rangtheorie unerlässlich. Der Vortrag schloss mit den ‚Take-home Messages‘:
1. Die klassische Logik taugt nicht für die juristische Logik.
2. Studiere das nicht-monotone Konditional.
3. Unterscheide strikt zwischen reinen und faktengeleiteten Normen.
Zur Vertiefung vgl. Spohn, RPhZ 2022, S. 5–38

20.01.2022
Prof. Dr. Juan Pablo Mañalich
Die Abgeschlossenheit von Systemen strafrechtlicher Sanktionsnormen in ihrer Eigenschaft als Systeme konstitutiver Regeln
Der Vortrag behandelt die Natur des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips als „Schließungsregel“ (residual closure rule), wobei seine übliche Charakterisierung als eine Regel, wonach jede Handlung, die nicht „strafrechtlich verboten“ ist, als „strafrechtlich erlaubt gilt“, bestritten wird. Denn das würde implizieren, strafrechtliche Sanktionsnormen – in der Terminologie Wesley Hohfelds – als regulative Regeln zu klassifizieren, während sie eher als konstitutive Regeln zu begreifen sind, die an die Strafgewalt gerichtete Bestrafungspflichten auslösen. (Daraus wird deutlich, warum Binding bereits in der zweiten Auflage seiner „Normen“ von seinem Verständnis abgerückt ist, Strafgesetze als Normen zu begreifen, die geeignet sind, Pflichten zu begründen.)
Für die Kategorisierung strafrechtlicher Sanktionsnormen als konstitutive Regeln spricht auch Harts Normentheorie, wonach gesetzliche Sanktionen Unterformen sogenannter sekundärer Zurechnungsregeln (secondary rules of adjudication) sind, die im Allgemeinen als konstitutive Regeln zu verstehen sind, die die Bedingungen, Form und Folgen der institutionellen Anwendung und Vollstreckung der Regeln konkretisieren, die das korrespondierende Rechtssystem bilden. Darunter sind (strafrechtliche) Sanktionsnormen diejenigen Regeln, die konkretisieren oder zumindest begrenzen, welche Strafe für die Verletzung derjenigen Verpflichtungen verhängt wird, die durch sie die Sanktionsandrohung flankiert werden. Die Anwendbarkeit einer strafrechtlichen Sanktionsnorm ergibt sich daraus, dass jemand, dessen (zurechenbares) Verhalten die Vorbedingungen dieser Norm erfüllt hat, eine bestimmte institutionelle Position einnimmt, die einer Hohfeldschen Verbindlichkeit (liability) entspricht, deren korrespondierende Position eine (Hohfeldsche) Macht (power) sein muss. Demnach ist eine strafrechtliche Sanktionsnorm eine konstitutive Regel, die dadurch eine „Strafäquivalenz“ (Binding) herstellt, indem sie die Erfüllung der Voraussetzungen mit der Verhängung der strafrechtlichen Sanktion verknüpft.
Dies führt zu dem ursprünglichen Problem, inwiefern das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip eine Schließungsregel darstellt. Die Regeln, die ein System bilden, das von der Schließungsregel geschlossen werden könnte, einerseits, und die Schließungsregel selbst andererseits müssen kategorisch homogen sein: Eine Regel, die in der Lage sein soll, ein bestimmtes Regelsystem zu schließen, muss derselben Art von Regeln angehören wie diejenigen des Systems. Sofern man weiter zwischen „starken“ und „schwachen“ Positionen im Hohfeldschen Sinne unterscheidet – also Positionen, die sich aus solchen Regeln ergeben, die dem fraglichen normativen System angehören, einerseits, und solchen, die sich daraus ergeben, dass das System keine Regeln gegenteiligen Inhalts kennt, andererseits –, ergibt sich der folgende Schluss: Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip muss als konstitutive Schließungsregel verstanden werden, wonach jeder, der nicht nach einer gesetzlichen Sanktionsnorm strafbar ist, nicht bestraft werden darf.
18.10.2021
PD Dr. Stephan Ast
Die Tatbestandslehre des Neukantianismus
Der dogmengeschichtlichen Thematik des Vortrags liegt eine Problemstellung zugrunde, die bis heute relevant ist, nämlich die Konzeption von Handlung und Tat(bestand). Ausgangsfrage war, ob die Tatbestandslehre der neukantianisch beeinflussten Strafrechtler kantisch geprägt ist, was im Ergebnis zu verneinen ist.
Die Grundlage für eine Tatbestandslehre ist der Handlungsbegriff. Jene Strafrechtler führten die maßgeblich durch von Liszt und Beling begründete Auffassung der Handlung fort. Die tatbestandlichen Handlungen (Taten) wurden als Gegenstände der strafrechtlichen Verbote und somit der Urteile über Rechtswidrigkeit und Schuld bestimmt. Das Verhältnis von Handlung und Tatbestandsverwirklichung wurde zumeist so aufgefasst, dass die Handlung eine Körperbewegung und lediglich physischer Träger der Tat ist, welche alle Bedeutungsbezüge umfasst, so dass die Tatbestandlichkeit eine akzidentielle Eigenschaft der Handlung ist.
In der vernunftrechtlichen Tradition, in der Kant steht, konzipierte man die Handlung dagegen als Ergebnis eines Zurechnungsurteils. Es ordnet eine Veränderung oder deren Ausbleiben einer Person zu. Als Grund der Zurechnung wurden Vorsatz oder Fahrlässigkeit bezüglich des Zurechnungsgegenstands anerkannt. Die Handlung wird somit nicht wie beim Kausalkonzept als ein Ding bzw. Ereignis mit bestimmten Eigenschaften aufgefasst, sondern als ein relationales Gebilde, das über seinen Zweck oder besser seine Funktion definiert wird, so dass die funktionserfüllenden Elemente – etwa Vorsatz oder Fahrlässigkeit – variabel sind.
Der Gegensatz beider Handlungsauffassungen ist insofern zu relativieren, als von Liszt der Handlung keine Zurechnungsfunktion zugemessen hat. Zugerechnet wurde erst mit dem Urteil über die Schuld, verstanden als Vorsätzlichkeit oder Fahrlässigkeit. Insbesondere Radbruch hat den Handlungsbegriff lediglich als juristischen Kunstbegriff konzipiert, um den Gegenstand des strafrechtlichen Unrechtsurteils zu bestimmen. Auf der Grundlage des Kausalkonzepts konnte dieser Begriff die Aufgabe aber gar nicht erfüllen, was Radbruch ebenfalls nachgewiesen hat. Er setzte stattdessen die Tat (Tatbestandsverwirklichung) als Grundbegriff des Systems.
Dagegen bezog Honig den Tatbestand auf das Problem der Konstitution einer Handlung. Er griff auf die vernunftrechtliche Tradition zurück und definierte die Tathandlung durch ihre Zurechnungsfunktion. Als Zurechnungsgrund setzte er die Bezweckbarkeit des tatbestandlichen Handlungserfolgs. Er überwand somit die nicht tragfähige Trennung von Handlung und Tatbestand ebenso wie das Kausalkonzept der Handlung, das nicht in der Lage war, Körperbewegung, Erfolg und Sinnaspekte der Handlung zusammenzufügen.
Als Sinneinheit begriff auch Welzel die Handlung, obgleich er an deren Kausalkonzept festhielt. Der Sache nach aber fasste er ähnlich wie die vernunftrechtlichen Tradition Vorsatz oder Fahrlässigkeit als Zurechnungsgründe auf, allerdings insoweit modifiziert, als sie schuldunabhängig konzipiert wurden. Erst die auf die Neukantianer folgende Generation knüpfte somit wieder an die Kantische praktische Philosophie an.
Zur Vertiefung: Ast, Vom Zurechnungs- zum Kausalkonzept – Handlung und Tat von der Philosophie der Aufklärung bis zur Strafrechtswissenschaft der Weimarer Zeit, in: Pawlik/Stuckenberg/Wohlers (Hrsg.), Strafrecht und Neukantianismus, 2023, S. 311–324
28.07.2021
Dr. Zhiwei Tang
Diskussion über die Normentheorie in der chinesischen (Straf-)Rechtswissenschaft
Der Vortrag beleuchtet den Rezeptionsstand und die aktuellen Schwerpunkte der normentheoretischen Diskussion in der chinesischen (Straf-)Rechtswissenschaft. Es geht vor allem um drei Fragestellungen: (I.) Wie man Normen und Normentheorie in China versteht; (II.) den aktuellen Stand und den Hintergrund der normentheoretischen Diskussion in China; (III.) was und in welcher Hinsicht die Normentheorie für die Entwicklung der chinesischen (Straf-)Rechtswissenschaft leisten kann.
I. Diskussion zum Normbegriff und zur allgemeinen Normentheorie in China
Vorherrschend in China ist vor allem ein sanktionstheoretisches Normverständnis, das auf das sowjet-russische Staats- und Rechtsdenken zurückzuführen ist. In Anlehnung daran wird im Bereich des Strafrechts überwiegend die Lehre von der Doppelnatur der Strafgesetze vertreten. Danach sind die Strafgesetze einerseits die an den Richter gerichteten Entscheidungsnormen, andererseits die an die Allgemeinheit gerichteten Verhaltensnormen. Im Gegensatz zur Unterscheidung von Verhaltens- und Sanktionsnormen im Sinne der deutschen Tradition seit Binding geht es bei den Verhaltens- und Entscheidungsnormen nach der Doppelnaturlehre von Strafgesetzen um zwei nicht voneinander unabhängige Seiten derselben Medaille. Dieses Strafrechtsnormverständnis hat einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf die herkömmliche Vier-Elemente-Verbrechenslehre ausgeübt, die die unterschiedlichen Strukturen von Verhaltensnorm und Sanktionsnorm und den Umstand übersieht, dass beide zwar verbunden, aber trotzdem getrennt zu betrachten sind.
II. Neuere Rezeption der Normentheorie aus den ausländischen Rechtsordnungen
Diesem herkömmlichen Normverständnis hätte die neuerliche Rezeption der rechtswissenschaftlichen Erkenntnisse aus Japan und Deutschland entgegentreten können. Das ist bislang jedoch nicht geschehen, weil die Normentheorie bislang nur eine Randfigur im juristischen Wissenschaftsaustausch darstellt und bei diesem begrenzten und punktuellen Wissenstransfer eine Vielzahl von Missverständnissen aufkommt.
III. Zukunftsperspektive: Die Entwicklung der Normentheorie(n) in China
Die Normentheorie kann ohne Vorbehalte für die strafrechtdogmatische Diskussion in China fruchtbar gemacht werden. Neben dem Streit bezüglich der Unrechtslehre kann die Normentheorie beispielhaft für die Lösung einer Reihe weiterer dogmatischen Streitpunkte – wie etwa die Rolle der quantitativen Merkmale in den meisten chinesischen Straftatbeständen – behilflich sein. Dafür ist es sinnvoll, wenn zunächst eine klare Entwicklungslinie und die unterschiedlichen Positionen der Normentheorie – genauer: der Normentheorien – herausgearbeitet werden können. Insoweit kann die Arbeit des Arbeitskreises eine wichtige Grundlage für die Fortentwicklung der chinesischen Strafrechtsdogmatik schaffen.
01.12.2020
PD Dr. David Kuch
Rechtssystem – Normtaxonomie – Handlungsgründe
Das Referat erschließt normentheoretische Aspekte im Rechtsdenken von Joseph Raz (*1939). Im Zentrum steht das zwischen 1970 und etwa 1985 publizierte Frühwerk, das eine institutionalistische Rechtstheorie (I.) in einen übergreifenden praktisch-philosophischen Kontext einbettet (II.). An beiden dieser Stationen seiner Denkbewegung finden sich Anknüpfungspunkte für im engeren Sinne normentheoretische Fragen.
I. Rechtstheoretischer Vordergrund: Institutionalistischer Positivismus
Raz’ Frühwerk steht unter starkem Einfluss von H.L.A. Harts klassischer Vorlage The Concept of Law (1961) und tradiert die „doppelte Institutionalisierung“ (Paul Bohannan) des Rechts. Deren normentheoretische Entsprechung ist die Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärregeln. Quer zu dieser Einteilung liegen weitere Ordnungskategorien für Normen, insbesondere die Unterscheidung zwischen Pflicht- und Ermächtigungsregeln oder gesetzten Normen und Praxisregeln.
II. (Rechts-)Philosophischer Hintergrund: Theorie der Handlungsgründe
Practical Reason and Norms (1975) bildet das rechtstheoretische Hauptwerk des Oxforder Philosophen. Es strebt die Formulierung einer zum Recht passenden Normativitätstheorie an, als deren Gravitationszentrum der Begriff des Handlungsgrundes fungiert. Die wichtigste normentheoretische Innovation besteht in der Deutung von Normen als „ausschließenden Gründen“ (exclusionary reasons). Darüber hinaus skizziert Raz eine an Hans Kelsen anschließende Theorie normdeskriptiver Sätze (detached statements). Beide Themen werden in Deutschland bislang nur wenig rezipiert (vgl. aber Kuch, Die Autorität des Rechts, 2016).
III. Zwischen Realismus und Skeptizismus
Der Gesamtansatz scheint durch ein eigentümliches Nebeneinander von Realismus und Skeptizismus geprägt zu sein. Hier zeichnet sich vielleicht eine intellektuelle Wahlverwandtschaft zwischen Joseph Raz und Ludwig Wittgenstein ab, der (neben Max Weber) zu den wichtigsten Hintergrundfiguren der analytischen Rechtstheorie zählen dürfte.