19.07.2023

Dr. Pepe Schladitz

Normentheorie und Vorsatzdelikt

Die dualistische Normentheorie in der Nachfolge Karl Bindings, nach welcher zwischen Verhaltens- und Sanktionsnormen zu differenzieren ist, wird in der literarischen Auseinandersetzung schwerpunktmĂ€ĂŸig im Kontext der FahrlĂ€ssigkeitsdelikte diskutiert. Pepe Schladitz befasste sich in seinem Vortrag demgegenĂŒber schwerpunktmĂ€ĂŸig mit den systematischen und dogmatischen Konsequenzen fĂŒr den Begriff des Vorsatzes und seiner Systematik. Schladitz stellte zunĂ€chst seine eigene normtheoretische Konzeption vor, die in kritischer Analyse zum normtheoretischen Unterbau der herrschenden Lehre von der objektiven Zurechnung entwickelt wurde. Mit dieser Lehre wurden die Verhaltensnormen zwar als Gefahrverursachungsverbote gedeutet, die maßgebliche Perspektive fĂŒr die zu bildenden Verhaltensanforderungen sei entgegen der herrschenden Ansicht jedoch nicht diejenige einer objektiven Maßstabsperson, sondern – der personalen Unrechtslehre entsprechend – der konkrete BĂŒrger. Hieraus folgert Schladitz einen einstufigen, individualisierten FahrlĂ€ssigkeitsbegriff. Den Vorsatzdelikten liege demgegenĂŒber qualitativ andersartige primĂ€re Verhaltensnormen als dem FahrlĂ€ssigkeitsdelikt zugrunde, weshalb in diesem Zusammenhang die sog. aliud-These richtig sei. Diese These unterstrich Schladitz mit der Strafbarkeit des untauglichen Versuchs sowie FĂ€llen des unvermeidbaren Erlaubnistatumstandsirrtums, deren Lösung die herrschende Ansicht vor große systematische Probleme stelle. Zuletzt illustrierte Schladitz systematische Folgerungen seiner Vorsatzkonzeption: Weil mit Frisch Vorsatzgegenstand das Verhalten in seiner verbotsrelevanten Dimension sei, sei auch bei BlanketttatbestĂ€nden an der Schuldtheorie festzuhalten. Zuletzt plĂ€dierte Schladitz fĂŒr die IdentitĂ€t von Verletzungs- und GefĂ€hrdungsvorsatz. Mit der Ausgestaltung des § 315d Abs. 2, 5 StGB sei der Gesetzgeber schlecht beraten gewesen.

Zur Vertiefung: Schladitz, Normtheoretische Grundlagen der Lehre von der objektiven Zurechnung – Sicheres Fundament oder Achillesferse?, 2021; ders., ZStW 134 (2022), S. 97

14.02.2023

Dr. Svenja Behrendt

Überlegungen zum Versuch des Unmöglichen: Die konzeptionelle BewĂ€ltigung von Unmöglichkeit in der Strafrechtstheorie und das Potential eines konstruktivistisch-diskurstheoretischen RechtsverstĂ€ndnisses

Der Vortrag befasste sich mit der konzeptionellen BewĂ€ltigung des PhĂ€nomens der Unmöglichkeit in der Strafrechtstheorie. Es ging zentral um die Frage, unter welchen UmstĂ€nden ein Vorwurf strafrechtlichen Unrechts legitimiert werden kann, obwohl das Handlungsprojekt faktisch den beabsichtigen Erfolg nicht herbeifĂŒhren wird oder es aus rechtlichen GrĂŒnden gar nicht als strafrechtlich relevantes Handlungsprojekt angesehen wird. Svenja Behrendt befasste sich idealtypisierend mit unterschiedlichen AnsĂ€tzen der UnrechtsbegrĂŒndung, unterschied streng objektive (ObjektivitĂ€t aufgrund eines deterministischen Weltbildes), schwach objektive („Verobjektivierung“ der Verhaltensnorm, fiktiver objektiver Dritter als Maßfigur) und subjektive AnsĂ€tze. Es wurde dargestellt, weshalb kein Ansatz ĂŒberzeugen kann und weshalb es dem herrschenden gemischt subjektiv-objektiven Ansatz an einem belastbaren theoretischen Fundament fehlt.
Behrendts Kernthese lautet, dass das Problem in dem RechtsverstĂ€ndnis und der Konzipierung der Verhaltensnorm liegt. Sie plĂ€dierte dafĂŒr, sich in der Fachdiskussion von der Annahme eines einheitlichen Normkonzepts zu lösen. Lege man ein konstruktivistisch-diskurstheoretisches RechtsverstĂ€ndnis zugrunde, werde deutlich, dass der Bruch einer strafrechtlichen Verhaltensnorm in allen strafrechtlich diskutierten FĂ€llen vorliege und die Frage in den Vordergrund rĂŒcke, ob auf die BetĂ€tigung eines auf den Bruch einer strafrechtlichen Verhaltensnorm gerichteten Willens ĂŒberhaupt kommunikativ reagiert werden mĂŒsse und, wenn ja, ob dies auf förmliche Art und Weise geschehen mĂŒsse. Wenn der beobachtende/beurteilende Interpret (z.B. Staatsanwalt oder Richter) nicht einmal in Bezug auf die abstrakte Verhaltensnorm die Ansicht des handelnden Akteurs teilt, dann bestehe grds. kein Anlass zur kommunikativen Reaktion. Anders sei das ggfs., wenn er – ebenso wie der handelnde Akteur – annimmt, dass es strafbewehrt untersagt ist, einen bestimmten Erfolg herbeizufĂŒhren (z.B. einen Menschen zu töten) und nur der Ansicht ist, dass die abstrakte Norm das konkrete Handlungsprojekt nicht untersagt (insbes. FĂ€lle des aberglĂ€ubischen Versuchs).

Zur Vertiefung vgl. Behrendt, ZfIStw 2023, 20

26.08.2022

Prof. Dr. Juan Pablo Montiel

Verantwortungsstrukturen und anomale Kontexte

Juan Pablo Montiel vertritt vor allem die These, dass die strafrechtliche Dogmatik ernsthafte Probleme bei der Feststellung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit in anderen FĂ€llen als solchen vorsĂ€tzlicher und vollendeter Straftaten aufwirft. Seiner Meinung nach hat die herrschende Lehre versucht, alle FĂ€lle zu lösen, indem sie die Regeln dieser Straftaten an alle Kontexte angepasst hat. Zur KlĂ€rung der Probleme beginnt Montiel mit einer Unterscheidung zwischen den Begriffen "Verbrechen" und "Verantwortungsstruktur", wobei er davon ausgeht, dass es einen einzigen Verbrechens-Begriff gibt, der in verschiedenen Strukturen verwendet werden kann. Dieser Begriff des “Delikts” besteht aus der Verbindung zweier unverzichtbarer Attribute: zum einen der “Normwidrigkeit”, die die Tat mit dem Begriff “StrafwĂŒrdigkeit” oder “Unrecht” verbindet, und zum anderen denjenigen der “Zurechenbarkeit” (zur Tat und Schuld).
Die Unterscheidung zwischen "Delikt" und "Verantwortungsstruktur" erlaubt es Montiel schließlich, zwei Gruppen von Strukturen zu unterscheiden: die Hauptstruktur und die subsidiĂ€ren Strukturen. Die Hauptstruktur entspricht den vorsĂ€tzlichen vollendeten Straftaten und ihr Primat ist auf historische GrĂŒnde zurĂŒckzufĂŒhren, die sich auch in der auf globaler Ebene vorherrschenden Gesetzgebungstechnik widerspiegeln: Die StrafgesetzbĂŒcher sind GesetzbĂŒcher fĂŒr vorsĂ€tzliche Straftaten mit besonderen Regeln fĂŒr die Zuschreibung der Verantwortlichkeit, wenn die elementaren Bedingungen nicht erfĂŒllt sind. Die Regeln des Versuchs und der FahrlĂ€ssigkeit erscheinen somit als Ausnahmen von der Regel der vorsĂ€tzlich vollendeten Straftaten. Gerade dieser Umstand zeigt jedoch, dass die Hauptstruktur durch subsidiĂ€re Strukturen ergĂ€nzt werden muss, wenn nicht alle Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen. In seinem Vortrag argumentiert Montiel fĂŒr die Existenz von zwei subsidiĂ€ren Strukturen: des Versuchsdelikts und des defektbehafteten Erfolgsdelikts.
Montiel argumentiert, dass eine Strafe im Falle des Versuchs nur dann verhĂ€ngt werden kann, wenn davon ausgegangen wird, dass es sich um eine selbstĂ€ndige Straftat und nicht um eine abgeleitete Form der Verantwortlichkeit handelt. Andernfalls wĂŒrde der TĂ€ter auch in dem Fall bestraft, in dem zwar die Voraussetzungen der Zurechnung erfĂŒllt sind, aber die Normwidrigkeit nicht gegeben ist. In diesem Sinne folgert Montiel, dass zur Überwindung dieser Schwierigkeit die Regelung des Allgemeinen Teils, die den Versuch anerkennt, eine Beschreibung der Eigenschaften bietet, die ein Verhalten aufweisen muss, um als normwidrig zu gelten.
Die zweite subsidiĂ€re Struktur der Verantwortlichkeit wird als "defektbehaftetes Erfolgsdelikt" bezeichnet. Sie umfasst FĂ€lle der actio libera in causa, actio illicita in causa, FahrlĂ€ssigkeit, usw., also solche, in denen der TĂ€ter eine tatbestandsmĂ€ĂŸige Handlung unter einem selbstverschuldeten Verantwortungsmangel vornimmt. Damit in diesen FĂ€llen alle Tatbestandsmerkmale gleichzeitig vorliegen, ist die Handlung zu einzubeziehen, durch die der Verantwortungsmangel verursacht wird, wobei jedoch zu berĂŒcksichtigen ist, dass sie mittelbar zur Verwirklichung der entsprechenden Tatbestand fĂŒhren kann.
Schließlich konzentrierte sich Montiel auf die Möglichkeit, die subsidiĂ€ren Strukturen miteinander zu kombinieren und auf die Folgen, die sich aus einer solchen Kombination ergeben können. Darunter stechen zwei Folgen hervor, die fĂŒr das traditionelle VerstĂ€ndnis der Straftatslehre besonders relevant sind: In diesem System ist die begriffliche Möglichkeit eines Versuchs bei sogenannten "fahrlĂ€ssigen Straftaten" möglich und jede Form von "unbewusster FahrlĂ€ssigkeit" muss von strafrechtlicher Verantwortlichkeit ausgeschlossen werden.

08.04.2022

Prof. Dr. Wolfgang Spohn

Das RĂ€sonieren mit bedingten Normen

Im 1. Teil ging es um grundsÀtzliche Unterscheidungen in der Rede von Normen: Normen als SollenssÀtze, kategorische und bedingte (= hypothetische) Normen, Normen und Normeninstanz, implizite und explizite Geltung von Normen, Normen als empirische Sachverhalte aus der externen Dritte-Person-Perspektive, Normen als genuine, nicht deskriptiv reduzierbare in der Ersten-Person-Perspektive. Nur um letztere Perspektive geht es in allem Weiteren.
Der 2. Teil befasste sich mit einer Kritik der Rechtslogik, welche juristische SchlĂŒsse, insbesondere den juristischen Syllogismus, mit den Mitteln der klassischen Logik zu formalisieren versucht. An Beispielen wurde gezeigt, dass diese SchlĂŒsse prinzipiell nicht-monoton oder ‚defeasible‘ sind und auf einem nicht-monotonen Konditional beruhen, welches sich mit der klassischen Logik nicht behandeln lĂ€sst.
Im 3. Teil wurden kurz die Grundpostulate der Logik kategorischer Normen erlĂ€utert. Diese bilden ein Teilgebiet der philosophischen Logiken, nĂ€mlich die deontische Logik, fĂŒr die sich ein Standardsystem herausgebildet hat. Es ist strukturgleich mit der doxastischen Logik (der Logik rationalen Glaubens). NatĂŒrlich sind alle diese Logiken nie frei von EinwĂ€nden.
Im 4. Teil ging es um die Erweiterung zu einer Logik der bedingten Normen. Hierzu muss man sich in die seit 1968 entwickelte Konditionallogik vertiefen, in der es eben genau um das fĂŒr die Formalisierung juristischer SchlĂŒsse benötigte nicht-monotone Konditional geht. Das hat sich zu einem verzweigten Gebiet entwickelt. Ein wichtiger, auch von Spohn vertretener Ansatz beruht auf dem so genannten Ramsey-Test und einer doxastischen Interpretation des Konditionals.
Der 5. Teil erlĂ€uterte, dass sich dieser Ansatz ebenso zum VerstĂ€ndnis bedingter Normen und ihrer logischen Erfassung eignet. Des Weiteren wurde ausgefĂŒhrt, welche dramatischen Konsequenzen es fĂŒr das SelbstverstĂ€ndnis der Rechtstheorie hat, wenn man diesen Ansatz ernstnimmt. Aber man muss ihn ernst nehmen. Das bisherige SelbstverstĂ€ndnis auf der Basis der klassischen Logik hat sich schließlich als unzulĂ€nglich erwiesen.
Im 6. Teil ging es um Chisholms Paradox, wie es heißt. In der deontischen Logik ist unklar, wie man damit angemessen umgehen soll. Spohn hat es eingefĂŒhrt, um eine grundlegende AmbiguitĂ€t zu erlĂ€utern, die die gesamte normative Rede durchzieht (und die nach Spohn dem Paradox zugrunde liegt): nĂ€mlich die AmbiguitĂ€t zwischen reinen Normen und faktengeleiteten Normen (in Analogie zur Unterscheidung zwischen intrinsischen und extrinsischen Werten oder „gut an sich“ und „gut als Mittel“). Spohns AusfĂŒhrungen zur Logik bedingter Normen waren ebenso ambig, aber genau genommen konnten sie sich nur auf die reinen Normen beziehen.
Im 7. Teil wurde ein Ausblick darauf gegeben, was noch zu leisten wĂ€re, um auch zu einer Logik faktengeleiteter Normen zu gelangen (um die es fast immer im juristischen Kontext und jedenfalls im juristischen Syllogismus geht). Hierzu wĂ€re ein Eingehen auf die von Spohn seit 40 Jahren entwickelte und propagierte so genannte Rangtheorie unerlĂ€sslich. Der Vortrag schloss mit den ‚Take-home Messages‘:

1. Die klassische Logik taugt nicht fĂŒr die juristische Logik.
2. Studiere das nicht-monotone Konditional.
3. Unterscheide strikt zwischen reinen und faktengeleiteten Normen.

Zur Vertiefung vgl. Spohn, RPhZ 2022, S. 5–38

20.01.2022

Prof. Dr. Juan Pablo Mañalich

Die Abgeschlossenheit von Systemen strafrechtlicher Sanktionsnormen in ihrer Eigenschaft als Systeme konstitutiver Regeln

Der Vortrag behandelt die Natur des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips als „Schließungsregel“ (residual closure rule), wobei seine ĂŒbliche Charakterisierung als eine Regel, wonach jede Handlung, die nicht „strafrechtlich verboten“ ist, als „strafrechtlich erlaubt gilt“, bestritten wird. Denn das wĂŒrde implizieren, strafrechtliche Sanktionsnormen – in der Terminologie Wesley Hohfelds – als regulative Regeln zu klassifizieren, wĂ€hrend sie eher als konstitutive Regeln zu begreifen sind, die an die Strafgewalt gerichtete Bestrafungspflichten auslösen. (Daraus wird deutlich, warum Binding bereits in der zweiten Auflage seiner „Normen“ von seinem VerstĂ€ndnis abgerĂŒckt ist, Strafgesetze als Normen zu begreifen, die geeignet sind, Pflichten zu begrĂŒnden.)

FĂŒr die Kategorisierung strafrechtlicher Sanktionsnormen als konstitutive Regeln spricht auch Harts Normentheorie, wonach gesetzliche Sanktionen Unterformen sogenannter sekundĂ€rer Zurechnungsregeln (secondary rules of adjudication) sind, die im Allgemeinen als konstitutive Regeln zu verstehen sind, die die Bedingungen, Form und Folgen der institutionellen Anwendung und Vollstreckung der Regeln konkretisieren, die das korrespondierende Rechtssystem bilden. Darunter sind (strafrechtliche) Sanktionsnormen diejenigen Regeln, die konkretisieren oder zumindest begrenzen, welche Strafe fĂŒr die Verletzung derjenigen Verpflichtungen verhĂ€ngt wird, die durch sie die Sanktionsandrohung flankiert werden. Die Anwendbarkeit einer strafrechtlichen Sanktionsnorm ergibt sich daraus, dass jemand, dessen (zurechenbares) Verhalten die Vorbedingungen dieser Norm erfĂŒllt hat, eine bestimmte institutionelle Position einnimmt, die einer Hohfeldschen Verbindlichkeit (liability) entspricht, deren korrespondierende Position eine (Hohfeldsche) Macht (power) sein muss. Demnach ist eine strafrechtliche Sanktionsnorm eine konstitutive Regel, die dadurch eine „StrafĂ€quivalenz“ (Binding) herstellt, indem sie die ErfĂŒllung der Voraussetzungen mit der VerhĂ€ngung der strafrechtlichen Sanktion verknĂŒpft.

Dies fĂŒhrt zu dem ursprĂŒnglichen Problem, inwiefern das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip eine Schließungsregel darstellt. Die Regeln, die ein System bilden, das von der Schließungsregel geschlossen werden könnte, einerseits, und die Schließungsregel selbst andererseits mĂŒssen kategorisch homogen sein: Eine Regel, die in der Lage sein soll, ein bestimmtes Regelsystem zu schließen, muss derselben Art von Regeln angehören wie diejenigen des Systems. Sofern man weiter zwischen „starken“ und „schwachen“ Positionen im Hohfeldschen Sinne unterscheidet – also Positionen, die sich aus solchen Regeln ergeben, die dem fraglichen normativen System angehören, einerseits, und solchen, die sich daraus ergeben, dass das System keine Regeln gegenteiligen Inhalts kennt, andererseits –, ergibt sich der folgende Schluss: Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip muss als konstitutive Schließungsregel verstanden werden, wonach jeder, der nicht nach einer gesetzlichen Sanktionsnorm strafbar ist, nicht bestraft werden darf.

28.07.2021

Dr. Zhiwei Tang

Diskussion ĂŒber die Normentheorie in der chinesischen (Straf-)Rechtswissenschaft

Der Vortrag beleuchtet den Rezeptionsstand und die aktuellen Schwerpunkte der normentheoretischen Diskussion in der chinesischen (Straf-)Rechtswissenschaft. Es geht vor allem um drei Fragestellungen: (I.) Wie man Normen und Normentheorie in China versteht; (II.) den aktuellen Stand und den Hintergrund der normentheoretischen Diskussion in China; (III.) was und in welcher Hinsicht die Normentheorie fĂŒr die Entwicklung der chinesischen (Straf-)Rechtswissenschaft leisten kann.

I. Diskussion zum Normbegriff und zur allgemeinen Normentheorie in China

Vorherrschend in China ist vor allem ein sanktionstheoretisches NormverstĂ€ndnis, das auf das sowjet-russische Staats- und Rechtsdenken zurĂŒckzufĂŒhren ist. In Anlehnung daran wird im Bereich des Strafrechts ĂŒberwiegend die Lehre von der Doppelnatur der Strafgesetze vertreten. Danach sind die Strafgesetze einerseits die an den Richter gerichteten Entscheidungsnormen, andererseits die an die Allgemeinheit gerichteten Verhaltensnormen. Im Gegensatz zur Unterscheidung von Verhaltens- und Sanktionsnormen im Sinne der deutschen Tradition seit Binding geht es bei den Verhaltens- und Entscheidungsnormen nach der Doppelnaturlehre von Strafgesetzen um zwei nicht voneinander unabhĂ€ngige Seiten derselben Medaille. Dieses StrafrechtsnormverstĂ€ndnis hat einen kaum zu ĂŒberschĂ€tzenden Einfluss auf die herkömmliche Vier-Elemente-Verbrechenslehre ausgeĂŒbt, die die unterschiedlichen Strukturen von Verhaltensnorm und Sanktionsnorm und den Umstand ĂŒbersieht, dass beide zwar verbunden, aber trotzdem getrennt zu betrachten sind.

II. Neuere Rezeption der Normentheorie aus den auslÀndischen Rechtsordnungen

Diesem herkömmlichen NormverstÀndnis hÀtte die neuerliche Rezeption der rechtswissenschaftlichen Erkenntnisse aus Japan und Deutschland entgegentreten können. Das ist bislang jedoch nicht geschehen, weil die Normentheorie bislang nur eine Randfigur im juristischen Wissenschaftsaustausch darstellt und bei diesem begrenzten und punktuellen Wissenstransfer eine Vielzahl von MissverstÀndnissen aufkommt.

III. Zukunftsperspektive: Die Entwicklung der Normentheorie(n) in China

Die Normentheorie kann ohne Vorbehalte fĂŒr die strafrechtdogmatische Diskussion in China fruchtbar gemacht werden. Neben dem Streit bezĂŒglich der Unrechtslehre kann die Normentheorie beispielhaft fĂŒr die Lösung einer Reihe weiterer dogmatischen Streitpunkte – wie etwa die Rolle der quantitativen Merkmale in den meisten chinesischen StraftatbestĂ€nden – behilflich sein. DafĂŒr ist es sinnvoll, wenn zunĂ€chst eine klare Entwicklungslinie und die unterschiedlichen Positionen der Normentheorie – genauer: der Normentheorien – herausgearbeitet werden können. Insoweit kann die Arbeit des Arbeitskreises eine wichtige Grundlage fĂŒr die Fortentwicklung der chinesischen Strafrechtsdogmatik schaffen.

01.12.2020

PD Dr. David Kuch

Rechtssystem – Normtaxonomie – HandlungsgrĂŒnde

Das Referat erschließt normentheoretische Aspekte im Rechtsdenken von Joseph Raz (*1939). Im Zentrum steht das zwischen 1970 und etwa 1985 publizierte FrĂŒhwerk, das eine institutionalistische Rechtstheorie (I.) in einen ĂŒbergreifenden praktisch-philosophischen Kontext einbettet (II.). An beiden dieser Stationen seiner Denkbewegung finden sich AnknĂŒpfungspunkte fĂŒr im engeren Sinne normentheoretische Fragen.

I. Rechtstheoretischer Vordergrund: Institutionalistischer Positivismus

Raz’ FrĂŒhwerk steht unter starkem Einfluss von H.L.A. Harts klassischer Vorlage The Concept of Law (1961) und tradiert die „doppelte Institutionalisierung“ (Paul Bohannan) des Rechts. Deren normentheoretische Entsprechung ist die Unterscheidung zwischen PrimĂ€r- und SekundĂ€rregeln. Quer zu dieser Einteilung liegen weitere Ordnungskategorien fĂŒr Normen, insbesondere die Unterscheidung zwischen Pflicht- und ErmĂ€chtigungsregeln oder gesetzten Normen und Praxisregeln.

II. (Rechts-)Philosophischer Hintergrund: Theorie der HandlungsgrĂŒnde

Practical Reason and Norms (1975) bildet das rechtstheoretische Hauptwerk des Oxforder Philosophen. Es strebt die Formulierung einer zum Recht passenden NormativitĂ€tstheorie an, als deren Gravitationszentrum der Begriff des Handlungsgrundes fungiert. Die wichtigste normentheoretische Innovation besteht in der Deutung von Normen als „ausschließenden GrĂŒnden“ (exclusionary reasons). DarĂŒber hinaus skizziert Raz eine an Hans Kelsen anschließende Theorie normdeskriptiver SĂ€tze (detached statements). Beide Themen werden in Deutschland bislang nur wenig rezipiert (vgl. aber Kuch, Die AutoritĂ€t des Rechts, 2016).

III. Zwischen Realismus und Skeptizismus

Der Gesamtansatz scheint durch ein eigentĂŒmliches Nebeneinander von Realismus und Skeptizismus geprĂ€gt zu sein. Hier zeichnet sich vielleicht eine intellektuelle Wahlverwandtschaft zwischen Joseph Raz und Ludwig Wittgenstein ab, der (neben Max Weber) zu den wichtigsten Hintergrundfiguren der analytischen Rechtstheorie zĂ€hlen dĂŒrfte.